Angriffe auf die unternehmerische Autokratie – Beiträge zur Mitbestimmung und Demokratisierung der Wirtschaft

Deadline: 31.07.2024

„Mitbestimmung in der Wirtschaft ist als Ergänzung der politischen Demokratie und als Angriff auf die unternehmerische Autokratie zu definieren. Sie ist vom Ansatz her radikaldemokratisch und antikapitalistisch“ (Otto Brenner)


Mitbestimmung umfasst alle Möglichkeiten und Rechte von Arbeitnehmer*innen, ihre konkrete Arbeitswelt aktiv mitzugestalten. Man spricht daher auch von Mitbestimmung als „gelebter Demokratie am Arbeitsplatz”. Konkretisiert wird dies im Betriebsverfassungsgesetz, in den Personalvertretungsgesetzen auf Bundes- und Länderebene sowie in den Gesetzen zur Unternehmensmitbestimmung.
Wo viele Menschen nun einen Großteil ihres Tages im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit verbringen, kann deren Prägekraft auf die arbeitenden und zugleich immer auch politischen Individuen sowie auf deren privates und soziales Umfeld nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2020, die Studie Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland 2023 oder die Mitte-Studie zeigten etwa, dass die Möglichkeiten der Mitbestimmung im Arbeitsleben Effekte auf die politischen Haltungen und Aktivitäten sowie auf die Einstellungen gegenüber der Demokratie im Allgemeinen haben. „Demokratie am Arbeitsplatz“ beschränkt sich also nie allein auf das Unternehmen und den Betrieb, sondern zielt immer auch auf die Politisierung demokratischer Bürger*innen. Mitbestimmung ist damit – ganz wie es Otto Brenner im oben angegebenen Zitat anmerkte – eine Stütze der politischen Demokratie.
Die Begrifflichkeiten des „Angriffs“ und der „unternehmerischen Autokratie“ machen sogleich deutlich, dass es sich dabei um ein umkämpftes Grundrecht handelt, das permanent dem Risiko seiner Rücknahme oder Auslöschung ausgesetzt ist. Die demokratischen Rechte auch der Mitbestimmung sind eben weder vom Ideenhimmel gefallen, noch als Gnadenakt der „Arbeitgeber-“ oder Kapitalseite an die „Arbeitnehmenden“ misszuverstehen. Sie sind keinesfalls selbstverständlich oder gar gemeinhin akzeptiert. Vielmehr sind sie das Ergebnis temporär erfolgreicher historischer Kämpfe und Auseinandersetzungen, die jedoch keinesfalls als (jemals) beendet oder dauerhaft befriedet angesehen werden dürfen. Dies machten jüngst erst die vom gegenwärtigen Finanzminister getätigten Forderungen zum „Lust machen auf die Überstunde“ deutlich. Unter anderem die deutschen Gewerkschaften kritisieren hieran, dass dies einer Rücknahme der hart erkämpften Mitbestimmungsrechte und damit einer Verdrängung gesamtgesellschaftlich gesehen wichtiger demokratischer Räume gleichkäme. Nicht zuletzt in den aktuellen Angriffen auf das Streikrecht verdeutlicht sich daher, warum das Verhältnis zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite analytisch wie politisch besser in den Begriffen des Kampfes beschrieben ist.
Die demokratischen Widerstandsrechte (auch) gegen die Angriffe der Kapitalseite, formal unveräußerlich und in allen Verfassungs- und Menschenrechtsdokumenten kodifiziert, sind in weiten Teilen der Bundesrepublik bereits außer Kraft gesetzt, wo Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung in der
Minderheit und zudem stetig auf dem Rückzug sind. In der Folge nimmt die verbandliche und parteipolitische Organisierung weiter ab und die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist in Betrieben ohne Betriebsrat beschäftigt, die wiederum die Mehrheit in der deutschen Wirtschaft bilden. Die Zahl der Menschen mit eigener Streikerfahrung, insbesondere in den industriellen und in den informationswirtschaftlichen Kernen, sinkt entsprechend kontinuierlich und wo die Möglichkeiten der Mitbestimmung radikal beschnitten werden, geht in der Folge die allgemeine Motivation zur demokratischen Teilhabe und die Zustimmung zu den demokratischen Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und Solidarität zugunsten von autoritären Einstellungen, steigender Gewaltaffinität und dem Aufstieg rechter politischer Kräfte zurück.
Wenn man Unternehmen also mit guten Gründen auch als „private Regierungen“ (Elizabeth Anderson) begreifen kann, dann sind deren Politiken gegen die Mitbestimmung als autokratisch zu adressieren und gleichsam zu bekämpfen. Daher gilt es unserer Ansicht nach, aus den eher passiven, reaktiven oder defensiven Logiken und Begrifflichkeiten von Korrektiv, Widerstand oder Gegenwehr herauszutreten und auf „Angriff“ umzuschalten. Mit „Angriffen auf die unternehmerische Autokratie“ bezeichnen wir dann alle Perspektiven, Strategien und Praktiken einer pro-aktiven (Rück-)Eroberung demokratischer Räume in der Arbeitswelt sowie der zeitlichen, motivationalen und kognitiven Ressourcen, diese Räume zu beleben. Denn die Erfahrungen, das Lernen und die Organisierung anhand von Auseinandersetzungen über Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind demokratische Akte in dem Sinne, dass sie technokratische, bürokratische oder schlichte Gewaltakte in ihrer Legitimation sowie materiell infrage stellen. Erfolgreiche Eingriffe in die Arbeits- und Lebensverhältnisse sind dann Chancen einer Demokratisierung eben auch in Form von Freiräumen und Freizeit. Die in der europäischen Geschichte erkämpften Freiräume – Bildungseinrichtungen, Versammlungsrecht, Wohnungen, Parks, Mobilität oder Journalismus – gingen stets auf Kosten der Verfügungsmacht des Kapitals und dessen Organisatoren in Form von Steuern, Löhnen oder Regulierung. Insbesondere Freizeit – Wochenende, Urlaub, Bildungsansprüche, Sozialversicherung, Rentensystem – kann auf die Stunde und auf den Euro als Übergang der Verfügungsfähigkeit von Kapital hin zu Menschen berechnet werden. Nahezu jede Form von Freiraum und Freizeit hat also mehrfachen Charakter und dient immer auch der Stabilisierung von Wertschöpfungsprozessen ob durch Befriedigung und Befriedung von unmittelbaren Konflikten oder durch Veredelung der Ware Arbeitskraft mittels Verbesserungen des Bildungs- und Gesundheitszustands. Die Systeme der parlamentarischen Demokratie, der Sozialpartnerschaft und der freiwilligen Arbeitgeberleistungen sind Ausdruck dieser mehrfachen Verschränkungen der Interessenlagen.
Der Sammelband soll daher Raum für Diskussionsstände, Beispiele und Auseinandersetzungen über Kämpfe um Mitbestimmung in der Arbeitswelt und um die Demokratisierung der Wirtschaft ermöglichen, die als Angriffe gegen die unternehmerische Autokratie adressiert und sichtbar gemacht werden sollen. Als Eckpfeiler dieser Kämpfe können hier die Ideengeschichte und gegenwärtige Praxis der Demokratie in einem weiten Sinne, aber auch die herausgeforderte Betriebsverfassung und die IG Metall als Gewerkschaft am Kreuzungspunkt von Wirtschaftsmacht, digitaler Transformation und gesellschaftlichen Umbrüchen in Industrie, Handwerk und Informationswirtschaft verstanden werden.
Mögliche Themen und Fragestellungen können dann im Rahmen von (ideen-)historischen, politiktheoretischen, rechtswissenschaftlichen oder soziologischen Beiträgen zur „Unternehmerischen Autokratie“ beziehungsweise zum spannungsgeladenen Verhältnis von Kapital und Demokratie bearbeitet werden, wie ebenso philosophische oder kulturwissenschaftliche Artikel etwa zur Figur des Unternehmers und zur unternehmerischen Leistung als vermeintlichem Beitrag zum Gemeinwohl denkbar sind. Beiträge zu Begriffen des Politischen und der Demokratie in den Gewerkschaften und deren Umfeld sind ebenso willkommen, wie Abhandlungen über Erfahrungen von Menschen und Gruppen in Auseinandersetzungen in der Arbeits- und Lebenswelt oder Erkenntnisse der Bildungs- und Erziehungswissenschaften zur Entwicklung des politischen Engagements und der politischen Bildung unter Erwachsenen, insbesondere unter abhängig Beschäftigten.
Wir bitten um Abstracts von ca. einer Seite bis zum 31.07.2024 an martin.oppelt@uni-a.de und falko.blumenthal@igmetall.de. Im Anschluss werden zeitnah ausgewählte Beitragende eingeladen, ihre Vorschläge bis zum 31.01.2025 zu einem Artikel von etwa 45.000 Zeichen auszuarbeiten.

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